St. Förster: Das politische System des Kantons Schaffhausen

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Titel
Das politische System des Kantons Schaffhausen. Akteure, Institutionen und Entscheidungsprozesse in einem Kleingliedstaat


Autor(en)
Förster, Stephan
Reihe
Occasional Papers 30
Anzahl Seiten
179 S.
Preis
€ 8,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roland Loeffler, Fachbereich Evangelische Theologie, Fachgebiet Kirchengeschichte, Philipps-Universität Marburg

Im Sommer 2005 klagte die europäische Presse, dass sich Europa nach dem von Tony Blair blockierten EU-Haushaltskompromiss in einer tiefen Krise befinde. Das mag für Entscheidungsprozesse auf höchster Ebene zeitweilig zutreffen. Doch Europa ist mehr als die EU und kann auch nicht nur auf die großen Akteure der politischen Bühne reduziert werden. Das „Europa der Regionen“ lebt von seiner Vielfältigkeit und gerade auch von kleinen Einheiten, die oftmals Probleme besser angehen können als die schwerfälligen nationalen oder übernationalen Administrationen. Es ist deshalb kein Zufall, dass sich in der Föderalismusforschung seit einiger Zeit ein neues Forschungsgebiet zu entwickeln beginnt: Die wissenschaftliche Betrachtung der „Kleingliedstaaten“. Es handelt sich dabei um bundesstaatliche Gliedstaaten mit geringer Bevölkerungszahl, spezifischen Problemen in Gesetzgebung, Administration und Ressourcen, aber auch besonderen Chancen wie Bürgernähe, Beteiligungsmöglichkeiten, einfachen Staatsstrukturen. Einen der jüngsten Beiträge zu diesem Forschungszweig hat der belgische Politikwissenschaftler Stephan Förster geschrieben, der als Referent im Ministerium der Deutschsprachigen Gemeinschaft (DG) in Eupen arbeitet und die Problematik also aus der Praxis kennt. Förster nennt deshalb als Hauptmotivation für seine Studie die Zukunft der DG mit ihren 72.000 Einwohnern, die um den Ausbau der Autonomie und die Anpassung der bereits eigenständigen Politikbereiche an die besonderen Verhältnisse vor Ort bemüht ist. Um aus einem Vergleich der Institutionen und der politischen Entscheidungsprozesse eines anderen europäischen Kleingliedstaates einen Erkenntnisgewinn für die DG zu ziehen, suchte Förster nach einer vergleichbaren Einheit. So kam er auf den Kanton Schaffhausen in der Schweiz, der bisher politik- und besonders föderalismuswissenschaftlich noch nicht erforscht war. Von seinem ursprünglichen Plan, beide Einheiten zu vergleichen, ist er aus „arbeitsökonomischen Gründen“ und der Schwierigkeit, ein repräsentatives und ein halbdirektes Demokratiemodell miteinander zu vergleichen, abgerückt (S. 13).

Die 176 Seiten lange, an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen bei Manfred Schmitz und Ralph Rotte entstandene Dissertation ist in zwei Hauptteile gegliedert. Während der erste Abschnitt „Intermediäre Akteure und Institutionen des politisch-administrativen Entscheidungssystems“ in den Blick nimmt, widmet sich der zweite einer „Empirischen Analyse kantonaler Entscheidungsprozesse“. Im ersten Teil soll es um ‚polity’, im zweiten um ‚politics’ im Sinne von Entscheidungsprozessen bei Sachfragen gehen (S. 14). Förster geht davon aus, dass ein Kanton als politisches System angesehen werden kann, weil er über alle entsprechenden Attribute verfügt (Staatsvolk, Staatsgebiet, Staatsgewalt). Ein Kanton ist ein Gliedstaat mit „weitgehender institutioneller Autonomie“ und zahlreichen Kompetenzbereichen einschließlich einer weitreichenden Finanzautonomie, kooperiert aber gleichzeitig mit dem Gesamtsaat und anderen staatlichen Ebenen. Im Falle Schaffhausens gliedert sich der Kanton in 34 Gemeinden, die neben den Parteien, Verbänden und der Presse als vierter intermediärer Akteur des politischen Systems angesehen wird.

Methodisch wählte Förster einen Mix, indem er erstens die kantonalen Parlamentarier schriftlich befragte (und einen Rücklauf von 55 Prozente erzielte), zweitens Archivalien sowie Publikationen analysierte, drittens Experteninterviews führte. Der Analyse des lokalen Radios und Fernsehen misst Förster, ohne dies genauer zu begründen, keine Bedeutung zu (S. 21). Seine leitenden Fragestellungen sind die nach dem „tatsächlichen Einfluss des Parlaments in der Legiferierung sowie diejenigen nach den Einflussfaktoren auf das Abstimmungsverhalten im Parlament und beim Referendum“ (S. 16). Förster beschränkt sich dabei auf die kantonalen Entscheidungen der Jahre 1989 bis 2002.

Zu den Besonderheiten des schweizerischen Politiksystems gehört, dass die Kantonalparteien nicht in allen Fällen an die Bundesparteien, die zum Teil als eine Art Dachorganisation fungieren, gebunden sind. Zudem gibt es die direktdemokratischen Elemente der Initiative und des Referendums, die die Macht der Parteien einschränken können. Betrachtet man das Parteiensystem des 74.000 Einwohner umfassenden Schaffhausener Kantons genauer, so fällt auf, dass es hier einen Multipartismus (Roger Blum) gibt, in der eine dominierende Partei fehlt. Mittlere und kleinere Parteien mit Stimmenanteilen von 10 bis 30 Prozent prägen das parlamentarische Leben, sorgen für eine starke Fraktionalisierung, Volatilität, Polarisierung und einen bemerkenswerten Anteil an linken Parteien. Das führt einerseits zu einem Link-Rechts-Konflikt, macht andererseits Koalitionen unumgänglich. Auf der bürgerlichen Seite sind die Schweizerische Volkspartei (SVP) und die Freisinnig-Demokatische Partei (FDP) am stärksten, auf dem linken Flügel die Sozialdemokratische Partei (SP) und zwei ökologische Parteien (Grüne Bündnis GB sowie Ökoliberale Bewegung Schaffhausen ÖBS). Auffälligerweise gibt es keine starke Kraft in der Mitte. In den letzten 20 Jahren gehörten dem 80-köpfigen Kantonsrat stets acht bis zehn Parteien an. Insofern ist Schaffhausen kein typischer Schweizer Kleinkanton (S. 24). Der Kantonsrat ist Teil „eines nicht-parlamentarischen, sondern quasi-präsidentiellen Regierungssystems“ (S. 49). Die Exekutive wird direkt vom Volk gewählt und kann auch nicht vom Parlament gestürzt werden – im Gegenzug hat die Regierung keine Kompetenz, das Parlament aufzulösen. Lediglich das Volk kann beide abberufen. Dieses fast an die USA erinnernde Modell der Gewaltenteilung führt dazu, dass die Parlamentarier freier sind und sich Mehrheiten nach Sachfragen bilden. Das Volk ist durch vorparlamentarische Volksinitiativen und nachparlamentarische Referenden am Willensbildungsprozess beteiligt, weshalb man von einer halbdirekten Demokratie sprechen kann. Zu beobachten ist aber auch, dass Parteien mit ein oder zwei Mitgliedern in der nur fünfköpfigen Regierung über eine große Mehrheit im Parlament verfügen. Die unter der Leitung eines Präsidenten stehende Regierung ist durch eine Verknüpfung des Kollegialitäts- und des Departementalprinzips gekennzeichnet, was ein hohes Maß an Konsensentscheidungen und eine hohe politische Kultur nahe legt. Dieses konkordanzdemokratische System besitzt den Nachteil, dass sich eine wirkliche Opposition im Schaffhausener Parlament nicht bilden kann und die intendierte Trennung der Gewalten de facto verwischt wird.

In einem kleinen Kanton zeigt sich, dass Kleingliedstaaten nicht alle staatliche Leistungen selbst übernehmen können, sondern sie im Weg der Externalisierung mit Privatunternehmen oder der horizontalen Kooperation mit größeren Nachbarkantonen abgedeckt werden. Genau auf diesem Gebiet liegt eines der zentralen Problemfelder von Kleingliedstaaten, die ohne Entlastung der Verwaltung nicht handlungsfähig bleiben können (S. 80). Förster zeigt, dass neben verschiedenen Sozialleistungen vor allem die Wirtschaftsförderung in Schaffhausen externalisiert worden ist, was sich als erfolgreiches Modell erwiesen hat. Nachteilig an der Externalisierung ist der Verlust der Kontrolle durch das Parlament. Förster urteilt dazu: „Die Externalisierung ermöglicht im Kern also eine erhöhte Flexibilität, erkauft durch geringe Mitwirkung bei unklaren finanziellen Konsequenzen.“ (S. 81) Im Bereich der horizontalen Kooperation kann Förster eine enorme Abhängigkeit Schaffhausens vom großen Nachbarkanton Zürich nachweisen, was sich im Demokratiedefizit und der Steuerungsschwäche des Kantonsrats niederschlägt. Dagegen gewinnt die Exekutive an Einfluss. Kleinheit kostet nicht nur Geld, sondern hat ein „überproportionales Demokratiedefizit“ zur Folge (S. 84). Ungeklärt bleibt für Förster die grundsätzliche Frage, ab welcher Größe ein Kanton nicht mehr auf Kooperation angewiesen ist. Förster vermutet, dass die Problematik mit zunehmender Größe abnimmt (S. 84).

Von diesen eher grundsätzlichen Beobachtungen ausgehend, zeigt sich auch in der empirischen Analyse der kantonalen Entscheidungsprozesse die Legislativfunktion, dass das kantonale Parlament Macht an die Exekutive verliert. Hier liegt – sowohl in der empirischen Untersuchung als auch im Bereich der Hypothesenbildung – die originäre Leistung der Arbeit. Aufgrund der Multiparteienlandschaft und der professionalisierten Verbandslandschaft sind die Einflussfaktoren auf das Abstimmungsergebnis im Parlament multidimensional. Bei Entscheidungen via Referendum zeigt Förster, dass die Zustimmung der Bevölkerung von der Zustimmungshöhe im Parlament abhängig ist. Dabei kommt auch der einzigen Tageszeitung des Kantons, den „Schaffhauser Nachrichten“ eine wichtige Rolle zu. Haben die Kommentare eine ablehnende Tendenz, wächst die Wahrscheinlich des Neins im Referendum.

Dass die Exekutive im Schaffhausener Politiksystem gesteigerten Einfluss besitzt, liegt an ihrer leitenden und koordinierenden Funktion im Gesetzgebungsprozess. Das gilt auch für die Gesetzgebungsinitiative, die zu zwei Drittel auf Regierungsvorlagen zurückgeht. Die geringste Gesetzesinitiative geht trotz der direktdemokratischen Verfassungselemente vom Volk selbst aus. Über 60 Prozent der Vorlagen der Regierung werden im Kantonsrat gar nicht oder nur schwach bearbeitet, was Förster zu dem Urteil führt, dass das „Parlament kaum noch als wirklicher Gesetzgeber betrachtet werden“ könne, sondern nur noch als Kontrollorgan fungiere (S. 153). Bemerkenswert – oder auch logisch – ist deshalb der Zustimmungsgrad im Parlament von 86,5 Prozent. Förster deutet deshalb an, dass das Parlament zukünftig die „notwendigen Instrumente für eine effiziente Kontrolle der Regierungstätigkeit“ erhalten müsse (S. 155). Dazu könnte eine permanente Gesetzgebungskommission im Parlament errichtet und die Professionalisierung der parlamentarischen Arbeit vorangetrieben werden – etwa durch einen wissenschaftlichen-juristischen Dienst, der den ehrenamtlichen Politikern zuarbeitet.

Abschließend sieht Förster für die Kleingliedstaaten und ihre Erforschung folgende Problemlagen und Herausforderungen:

- Kleingliedstaaten kommen mit einfachen staatlichen Strukturen aus, unterliegen aber einem hohen Zentralisierungsdruck. Gleichwohl sollte das förderale Prinzip nicht auf der gliedstaatlichen Ebene aufhören, sondern die kommunale Eigenständigkeit umschließen. Kleingliedstaaten stecken folglich in einem Dilemma zwischen innerem Föderalismus und Schwäche nach außen oder innerer Zentralisierung und Stärke nach außen.

- Die nicht vorhandene Größe führt dazu, dass kleine Einheiten zwar die gleichen Aufgaben wie große erfüllen müssen, es aber aufgrund von finanziellen und personellen Ressourcen nicht können. Mitunter ist der Mindestfinanzaufwand kaum finanzierbar. Nicht vorhandene Größe ist suboptimal und teuer. Das führt zu Kooperationsmodellen mit anderen föderalen Partnern oder grenzüberschreitend.

- Die Öffnung ist Zwang und überlebensnotwendige Strategie. Hier liegt nicht nur eine Schwäche, sondern auch eine Stärke kleiner Einheiten. Kooperation kann eine Bereicherung sein, besonders, wenn sie in Grenzregionen geschieht. Die Chance der Kleingliedstaaten besteht deshalb darin, im Konzert der Bundesstaaten „eine dynamische Vorreiterrolle“ zu übernehmen und als politisch-gesellschaftliches „Laboratorium“ zu dienen (S. 158).

Bedauerlich ist gerade bei diesen und anderen Hypothesen, dass Förster auf jeden theoretischen Anspruch für seine Arbeit verzichtet (S. 15), sie ausdrücklich in Anlehnung an Arend Lijphart als „atheoretische Einzelfallstudie“ bezeichnet, die nur die Datenbasis für eine breiter angelegte vergleichende Untersuchung liefern soll. Dadurch verliert Försters Arbeit etwas an wissenschaftlichem Charme und erschwert die Anschlussfähigkeit zu anlagernden Fachgebieten. Zudem ist bedauerlich, dass Förster sich nicht an den zunächst intendierten Vergleich des Kantons Schaffhausen mit der DG in Belgien gewagt hat bzw. sich im Schlusskapitel mit wenigen Skizzen begnügt. Dass er sich in der Materie auskennt zeigen ein zusammen mit dem DG-Ministerpräsidenten Karl-Heinz Lambertz und Leonard Neycken verfasster Aufsatz und ein kürzlich erschienener Sammelband. 1

Man hätte Förster mehr Mut zu einem ausführlichen und spannenden Vergleich zweier Kleinstgliedstaaten gewünscht. So bleibt der Eindruck einer gründlich gearbeiteten, gut gegliederten, praxisorientierten Studie, die das Potential des neuen Kleingliedstaaten-Forschungsgebiets vor Augen führt. In einer immer größer werdenden EU mit nicht unerheblichen nationalen Minderheiten werden vermutlich derartige Modelle noch an Bedeutung gewinnen als. Das politische Paradies auf Erden sind die Kleingliedstaaten, wie Försters Analyse der mitunter komplexen Willensbildungsprozesse in Schaffhausen zeigt, aber auch nicht.

Anmerkung:
1 Förster, Stephan; Lambertz, Karl-Heinz; Neycken, Leonard, Die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens – das kleinste Bundesland in der Europäischen Union, in: Jahrbuch des Föderalismus 2004, S. 207-218; Förster, Stephan; Lanbertz, Karl-Heinz (Hgg.), Small is beautiful, isn’t it? Herausforderungen und Perspektiven kleiner (glied)staatlicher Einheiten. Beiträge zur Konferenz in Eupen am 31. Januar 2004, Tübingen 2004.

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